Vor 19 Monaten, im Mai 2022, infizierte ich mich mit dem Coronavirus und erkrankte schließlich an Long-Covid. Ich versuchte gerade, mich damit abzufinden, vielleicht nie wieder voll arbeiten und am sozialen Leben teilhaben zu können. Doch dann linderte eine Off-Label verschriebene Medikation mein Leitsymptom[1] und nun stehe ich plötzlich wieder in einer Welt voller Menschen. Sehr schnell stellte sich heraus, dass ich nicht nur in die positiven Aspekte des Miteinanders eintauchen werde. Zurück mit Long-Covid, zurück in eine ableistische[2] Welt.
Bei Long-Covid und ME/CFS[3] ist fast alles gefährlich für die eigene Gesundheit – Geräusche, Gespräche, Treppenhäuser ohne Lift, Licht, Wärme, Kälte, Körperhygiene, kochen, Wege zur Ubahn oder zum Supermarkt. All diese Aktivitäten und Faktoren können zu akuten Schmerzen und langfristigen Verschlechterungen führen. Man ist teilweise unfähig, jeglichen körperlichen oder geistigen Aktivitäten nachzugehen. Es fühlt sich an, als würde man in einem vernebelten See aus Schmerz und Erschöpfung leben. Als ich einmal, auf einen falschen ärztlichen Rat hin, die Treppen anstatt des Lifts zu meiner Wohnung nahm, ging es mir daraufhin zwei Wochen lang so grottenschlecht, dass ich es kaum mehr vom Sofa ins Badezimmer schaffte. Ich musste massives „Pacing“ betrieben, also mit eiserner Disziplin immer 20% unter meiner Belastungsgrenze bleiben, um aus dem Zustand wieder herauszukommen. Mit dieser Strategie hat man Hoffnung auf Besserung. Oft dauert es Wochen, bis diese eintritt und man muss auch darüber hinaus konsequent bleiben. Und Belastungsgrenze heißt auch: Spaß haben. Lachen, mit Besuch gemeinsam zu Abend essen oder nach einem langen Tag in der Wohnung kurz einen Sprung vor die Tür zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Alles Dinge, die zu einer fernen Utopie verkommen, wenn man von Long-Covid oder ME/CFS betroffen ist. Ich arbeitete anfangs noch als Kunst-Lehrerin in einem Gymnasium, doch meine Kraft reichte irgendwann nicht mal mehr, um die Tür zu dem Werksaal zu öffnen, in dem mein Unterricht stattfand. Ich ging noch viel zu lange zur Arbeit, was ich letzten Endes mit zwei Monaten Hausgebundenheit bezahlte. Mit Anfang 30 konnte ich es mir schlichtweg nicht vorstellen, tatsächlich so schwer erkrankt zu sein. Es war für mich nicht greifbar, dass meine Zustände nicht mehr besser werden und sich gerade dadurch verschlimmerten, wenn ich motiviert war, aktiv zu werden. Mit Long-Covid umgehen zu lernen, bedeutete für mich, alles, was ich von anderen Genesungsprozessen kannte, auf den Kopf zu stellen. Ich musste mir beibringen, verkehrt zu denken, um Besserung anzustreben. Lange Zeit war diese konsequente Aktivitätsdrosselung das einzige, von dem man wusste, dass es hilft. Manchmal kommt mir die Krankheit vor wie ein ausgeklügelter Fluch. Sie legt sich wie ein Chamäleon über die individuelle körperliche Konstitution, verstärkt Schwächen und reduziert Stärken. Das stellt eine enorme körperliche und mentale Herausforderung dar.
Erst sechs Monate nach Beginn der Erkrankung konnte ich akzeptieren, dass diese nun bis auf weiteres Teil meines Lebens, nein, mein Leben ist. Durch die Recherche einer ebenfalls betroffenen Freundin gelangte ich dann zu einer Spezialistin, welche mir zu verstehen gab, dass ich riskiere, niemals mehr gesund zu werden, wenn ich jetzt nicht zu Hause bleibe. Und da bin ich jetzt noch immer vorwiegend: Zu Hause, wie in einem Ei. Fragt mich nicht wie, aber ich bin weiter meiner Tätigkeit in der feministischen Beratungs- und Bildungsarbeit nachgegangen. Natürlich (nach wie vor) in radikal reduziertem Ausmaß, jedoch mit allem Einsatz, der mir möglich war. Einen längeren Termin zu haben, bedeutete sehr, sehr viel Ruhe im Vorhinein und Erholungsbedarf im Nachhinein. Ich übernahm aber nur, was sich auch machbar anfühlte. Ich glaube, es half mir, mich daran festzuhalten, anderen etwas weitergeben zu können, in einer Zeit, in der ich das Gefühl hatte, langsam zu verschwinden. Die Unsichtbarkeit meiner Behinderung trug ihren Teil dazu bei, dass ich mich lange nicht dazu berechtigt fühlte, dauerhaft in Krankenstand zu gehen und wichtige Maßnahmen zu setzen. Ständig musste und muss ich mein Umfeld darauf aufmerksam machen, dass ich schwer krank bin und eine Behinderung habe, da sie von außen nicht immer erkennbar ist. Niemand macht mir den Platz in der Straßenbahn frei, Kolleg:innen und Bekannte reagieren teils genervt auf meine Einschränkungen. Das sei doch nur der Stress, ich sei eben sehr sensibel.
Nicht einen halben Tag würden die meisten mit meinen Zuständen ohne Verzweiflung aushalten. Was verständlich wäre, die Zustände sind schrecklich. Doch die Relativierungen waren und sind oft nur schwer zu verkraften. Nun sind es 19 Monate seit Beginn meiner Erkrankung. Nicht die eigene Produktivität, die schönsten Ausflüge und die intensivste intellektuelle Auseinandersetzung konstituieren nun meine Identität und mein Wohlergehen. Es gilt jetzt, mich und die Welt mit anderem Maß zu messen. Ich musste lernen, mich als „kranke Hausfrau“ zu akzeptieren, wie die ebenfalls betroffene Margarete Stokowski es als Selbstbezeichnung formuliert[4]. Viele Betroffene beginnen, sich aus der Not heraus ein immenses Wissen über die Forschungslage und mögliche Heilungsansätze anzueignen und einige teilen dies dann mit der – außergewöhnlich starken – Community. Auch mir hilft die Recherche oft aus den Abgründen, die sich auftun können. Ich könnte hier nun beginnen über Resilienz und ihre Faktoren zu sprechen, doch das verdient einen eigenen Text.
Die mich umgebende Welt muss ich nun danach beurteilen, wie sehr sie sich an meine Bedürfnisse anpasst – oder eben nicht. Vor allem sind wir Long-Covid und ME/CFS Betroffenen aber auf das Verhalten unserer Mitmenschen angewiesen, denn dies kann einen immensen Einfluss auf uns haben. Jeder Infekt, jedes immunologische Ereignis birgt das Potential, unsere Gesundheit nachhaltig zu verschlechtern. Ich habe daran gearbeitet, nicht in Angst davor zu leben. Das erleichtert mein Leben sehr, doch ich kann es sehr gut nachvollziehen, wenn andere das nicht so handhaben. Das immunmodulierende Medikament, welches bei mir so gut symptommildernd wirkt, führt nun auch dazu, dass ich viel mehr soziale Kontakte habe. Neulich war ich sogar, erstmals seit prä-pandemischen Zeiten, wieder bis nach Mitternacht in einer Bar. Ich dachte mir nicht, dass das jemals wieder bei mir am Programm stehen würde und genoss es sehr. Ich fand es wunderschön und war gleichzeitig viel damit beschäftigt, das lebhafte Geschehen zu verarbeiten. Ich stand gerade vor dem Lokal, als ich überhörte, wie irgendjemand im Vorbeigehen provokant sagte: „Ich bin eh schon fast wieder negativ!“ und lachte. Ich nenne diese Person hier im Text einfach XY, damit sie einen Namen hat. Ich war vollkommen perplex. Die Person XY war inzwischen wieder in die Bar verschwunden. Ich fragte ungefähr 10x mal nach bei jenen, an die das Kommentar gerichtet war, ob ich richtig gehört hatte und ob es wirklich um Covid ging. Ja, ging es. Mitten in dem Meer von schönen Gefühlen verspürte ich plötzlich eine Art von Schock, die ich erst kenne, seitdem ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht zu wissen, wie und ob es mit der eigenen Gesundheit überhaupt weitergehen wird. Ich begann schlagartig, mich aufzuregen und mein Umfeld versuchte mich zu beruhigen. Sie reagierten teilweise vehement auf meine Anspannung, doch wenigstens reagierten sie. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn mich niemand ernst genommen hätte. In heiklen Situationen ist jede Kontaktaufnahme zu Betroffenen wichtig. Und zu meiner Überraschung gingen die Personen meiner Aufregung nicht aus dem Weg. Man ist vor Long-Covid nicht sicher, wenn man es nicht bei der ersten Infektion bekommen hat, es kann auch bei einer späteren Infektion entstehen[5]. XY setzte hier die Gesundheit deren Mitmenschen aufs Spiel, um dem eigenen individuellen Drang nach einem Ausgehabend nachzugehen.
Sollte sich jetzt jemand insgeheim fragen, warum ich als Person mit einem solchen gesundheitlichen Risiko nicht einfach zu Hause bleibe, anstatt in Bars zu gehen, möchte ich folgendes darauf erwidern: Ich schlage vor, sich dafür einzusetzen, dass Menschen, welche gerade einen akut ansteckenden Infekt haben, zu Hause bleiben, sich regelmäßig die Hände waschen und in der Öffentlichkeit Maske tragen, sofern sie die Möglichkeit dazu haben. Andernfalls riskiert man schwere gesundheitliche Folgen bei seinen Mitmenschen. Kranke und alte Menschen durch die eigene Unlust, sich an diese simplen Maßnahmen zu halten, in die Unsichtbarkeit zu drängen, ist schlichtweg Ableismus. Und ich denke, es ist wichtig, sich den eigenen Ableismus regelmäßig vor Augen zu führen. Und im besten Falle gewöhnt man ihn sich auch gleich aktiv ab. Ich hatte, noch immer vor dem Lokal stehend, nicht vor, von meinen Beschwerden abzulassen. Eine Lösung hatte ich mir aber auch noch nicht überlegt. Dem Entsetzen Luft machen, weiter hatte ich noch nicht gedacht. Immerhin ein erster Schritt. Die Vorstellung, persönlich auf jemanden mit aufrechter Covid-Infektion zuzugehen, lag mir fern. Einerseits wegen der Ansteckungsgefahr, aber auch, weil ich ohnehin schon aufgebracht, durcheinander und dadurch sehr vulnerabel war. Nicht weit von uns stand jemand, den ich einfach mal als Türsteher bezeichnen würde, vielleicht auch Awareness-Team, jedenfalls bewachte er die Tür und wirkte sensibilisiert. Er kam auf uns zu, hörte sich meine Beschwerden an und übernahm sofort Verantwortung. Er fragte, ob wir ihm zeigen wollen, wer XY ist. Er würde XY gerne der Bar verweisen. Würde ich jetzt: „Gesagt, getan.“ schreiben, wäre das aber eine Lüge. Meiner Erinnerung nach reagierten alle aus der Runde zögerlich, bis ich mich fasste und sagte: „Ja, sicher“. Doch zuvor lief noch die ewige ängstliche Leier in meinem Kopf ab: „Reagiere ich vielleicht doch über? Was, wenn es ein Scherz war? Habe ich das Recht, einen Rauswurf zu veranlassen?“ Ja, habe ich. Es geht darum, die eigene und die Gesundheit anderer zu schützen und vor allem auch das Verhalten dieser Person zu adressieren. „This is a Mass Disabeling Event“ lautet einer der aktivistischen Slogans der Long-Covid Community. Er bezieht sich auf mangelnde Covid-Maßnahmen und rücksichtsloses Verhalten. Der Spruch ist hier meiner Ansicht nach sehr passend. Als weiblich sozialisierte Person ist es tief in mir verankert, Situationen, welche mir schaden, aushalten zu müssen, anstatt aktiv zu werden. Ich trainiere seit Jahren mich und andere darin, pro-feministisch bzw. pro-emanzipatorisch handlungsfähig zu sein und zu bleiben, und sich somit für die eigene und die Sicherheit anderer einzusetzen. Und dennoch war ich mir nicht sofort sicher dabei, mir das Recht herauszunehmen, eine wissentlich Corona-positive Person aus einer Bar werfen zu lassen. Absurd, wenn man darüber nachdenkt − doch möchte ich alle, die diesen Text lesen, gern dazu anregen, in Zukunft auf die eigene Reaktion in Akutsituationen zu achten. Vor allem darauf, ob ihr Hemmungen habt, aktiv zu werden, und ob ihr diese überkommt oder nicht. Zum Glück zweifelte die Türsteherperson nicht und nahm mir das Problem ab. Und das ist die kollektive Verantwortlichkeit, von der ich spreche. Long-Covid und ME/CFS Betroffene sind auf eine unglaublich unfaire Weise auf ihr emanzipatorisches Potential zurückgeworfen. Besuche bei Ärzt:innen können zum Spießroutenlauf werden, „medical gaslighting“, also die gezielte Verunsicherung von Patient:innen, steht auf der Tagesordnung. Permanent muss man sich als erkrankt outen, um nicht übersehen zu werden. Von der Gesundheitsversorgung wird man in Österreich bisher weitgehend übergangen, doch auch hierzu mehr in einem anderen Text. Tatsächlich ist die Krankheitslast bei ME/CFS und Long-Covid so hoch, dass die Lebensqualität geringer eingeschätzt wird als bei Erkrankungen wie Krebs, HIV oder Multipler Sklerose[6]. Wenn ihr Long-Covid und ME/CFS Betroffenen helfen wollt, dann ist das am leichtesten, wenn ihr sie ernst nehmt. Ihr könnt das zeigen, indem ihr im Alltag wieder Maske tragt und natürlich, wenn ihr bei einem akut ansteckenden Infekt zu Hause bleibt und andere ebenfalls dazu auffordert, dies zu tun. Letzteres nicht den Betroffenen zu überlassen, ist schon eine anti-ableistische Handlung. Dass man dies anscheinend auch in Bezug auf Covid extra sagen muss, war mir bis zu diesem Erlebnis nicht klar. Ihr könnt Betroffenen auch einfach ausführlich zuhören und ihnen anschließend etwas vom Aktivismus abnehmen, wenn sie das wollen. Sich über ME/CFS und Long-Covid zu informieren und zu teilen, was ihr wisst, ist ebenfalls enorm hilfreich. Ich habe grundsätzlich keine Probleme damit, mich verbal zu artikulieren und Probleme zu adressieren, es ist Teil meines Berufs. Ich bin geübt in Praxen der Community Accountability/kollektiven Verantwortlichkeit und Zivilcourage. Dennoch war ich in der obigen Akutsituation kurzzeitig nicht handlungsfähig. Mein Ansatz ist es, als Gesellschaft, als Community aktiv zu üben, in heiklen Situationen zu intervenieren und unsere Bedürfnisse zu artikulieren. Kollektiv Verantwortung zu übernehmen entlastet, auch wenn nicht Betroffene dann mehr als vorher handeln müssen. So kann man sich solidarisch zeigen. Die Maskenpflicht wurde zu meinem Unverständnis in allen Bereichen abgeschafft, doch FFP2 Masken sind nach wie vor zu erschwinglichen Preisen erhältlich.
Es ist okay, ableistisches Verhalten nicht auf Anhieb erkennen zu können, doch nicht aus dieser Erkenntnis zu lernen, halte ich für den eigentlichen Fehler. In meinem Fall möchte ich es mir zur Aufgabe machen, über das Thema Long-Covid und ME/CFS aus einer persönlichen Perspektive aufzuklären. Ich habe schon sehr früh entschieden, möglichst transparent mit meiner Erkrankung umzugehen und immer dann darüber zu reden, wenn ich das Bedürfnis danach habe. Das hilft mir einerseits bei der Aufarbeitung. Andererseits spüre ich, wie nicht Betroffene Personen dadurch oft erst eine Ahnung davon bekommen, was Long-Covid und ME/CFS bedeuten kann und wie viele Menschen davon tatsächlich betroffen sind. Nicht alle von uns haben die Kraft, Lust oder Ressourcen dazu, über die eigene, schwierige Lage zu berichten. Doch von allein scheint es nicht ausreichend medial abgedeckt zu werden.
[1] Mein, bzw. das Leitsymptom bei Long-Covid ist die PEM, die Post Excertional Malaise, was soviel bedeutet wie maximale Erschöpfung bzw. kränkliche Schwäche nach minimaler Anstrengung.
[2] Ableismus bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung
[3] Die Unterscheidung zwischen beiden Syndromen ist nicht klar zu ziehen, wichtig ist jedoch, dass Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom auch durch andere Auslöser als Covid entstehen kann. Es ist bereits seit den 1950er Jahren medizinisch bekannt.
[4] https://www.instagram.com/marga_owski/
[5] https://altea-network.com/blog/93-reinfektion
[6] https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0132421